Postmatch-Code-Violations
Hallo Christoph! Ich habe beim Masters in Indian Wells Kyrgios gesehen, wie er nach dem Match seinen Schläger zu Boden pfefferte und dabei beinahe einen Balljungen getroffen hätte. Kann Kyrgios hierfür nachträglich noch belangt werden? Welche Strafen sieht der Katalog der ATP für derartige Vergehen überhaupt vor? In Acapulco ist ja auch Zverev nach dem Match vollkommen ausgerastet. Eine fünfstellige Geldstrafe ist ja für die Profis eher lächerlich. Was hätte den beiden geblüht, wenn die Vergehen während der Partie stattgefunden hätten?
Christoph Damaske: Ja, alle Postmatch-Code Violations werden auf Bitten der Supervisor vom Schiedsrichter schriftlich beschrieben dargelegt. In dieser Situation wird dann im Ermessen der Supervisor entschieden, ob es sich um einen Racket Abuse handelt (Maximum-Strafe laut ATP-Regelbuch: 500 US-Dollar) oder um einen Unsportsmanlike Conduct (Maximum-Strafe laut ATP-Regelbuch: 20.000 US-Dollar). Die Supervisor entscheiden dann nach Sichtung der Fernsehbilder und der Auswirkungen des Vorfalls auf Beteiligte (Verletzung oder keine von Zuschauern, Officials, Ball Boys, Absicht oder Fahrlässigkeit, aus Ärger/Frust, Lautstärke der verbalen Ausfälle, hörbar im TV, Schutz der Integrität des Tennissports, etc.) über die Höhe der Strafe. Ein Spieler kann die Strafe dann appealen, also Einspruch dagegen erheben. Alle Strafmaße und Erklärungen sind im ATP Rulebook unter dem Absatz VIII The Code nachzulesen.
»In Acapulco ist ja auch Zverev nach dem Match vollkommen ausgerastet. Eine fünfstellige Geldstrafe ist ja für die Profis eher lächerlich.« Eine Bewertung Ihrer These steht mir nicht zu in meiner Funktion als noch aktiver Schiedsrichter. Nur so viel kann ich Ihnen erläutern: Es gibt ein ATP Rulebook, in dem alle möglichen Strafen klar geregelt sind. Alexander Zverev hat die maximal möglichen Strafen durch die ATP für Verbal Abuse und Unsportsmanlike Conduct und dazu noch eine Bewährungsstrafe erhalten, die nur bei besonders gravierenden Verstößen gegen den Verhaltenskodex ausgesprochen werden kann. Er ist nicht der erste männliche oder weibliche Tennis-Profi und wahrscheinlich nicht der letzte Tennisprofi, dem so ein Aussetzer im emotionalen Ausnahmezustand passiert, aber sicher der Profi, der durch seine Vorbildfunktion als Nr. 3 der Weltrangliste, ATP-Weltmeister und Olympia-Sieger am meisten dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Zu den zweimaligen Höchststrafen für seine Verstöße gegen den Verhaltenskodex kommen außerdem noch die Einzeldisqualifikation, der Verlust der Weltranglisten-Punkte und der Verlust der Preisgelder sowie mögliche entgangene Einnahmen. Zu den Auswirkungen und Einbußen auf der Sponsoringebene durch den selbst verschuldeten Imageverlust müssten Sie Marketingexperten befragen.
»Was hätte den beiden geblüht, wenn die Vergehen während der Partie stattgefunden hätten?« Nick Kyrgios hätte ein Code Violation für Racket Abuse oder wahrscheinlicher einen Unsportsmanlike Conduct (da eine wenn auch nicht beabsichtigte Gefahr für den Balljungen bestand) erhalten, im Ermessen des/r Stuhlschiedsrichters/in, je nach vorheriger erhaltener Code Violation dann eine Warning (1. Sanktion), Point Penalty (2. Sanktion) oder Game Penalty (3. und weitere Sanktion). Ein Default wäre es nicht geworden, da der Balljunge ausgewichen ist und nicht getroffen wurde. Im Fall Zverev wäre es im Ermessen des Schiedsrichters entweder eine Code Violation Unsportsmanlike Conduct geworden, oder der Stuhlschiedsrichter hätte den Supervisor bzw. den Referee für einen Immediate Default zur Konsultation gerufen, wiederum nach Ermessen des Schiedsrichters, ob er sich persönlich bedroht gefühlt hätte. Nur er/sie ist der Experte der Situation auf dem Platz. Wie gesagt, es wurden schon früher Schläger an Schiedsrichterstühlen zerlegt oder die Werbebanner unter dem Schiedsrichter-Sitz zerhackt, allerdings dann meistens ohne Videoaufzeichnung und Social Media-Verbreitung. Ein Immediate Default deshalb ist mir bis dato nicht bekannt. Jeder Vorfall ist aber immer einzeln von den zuständigen Officials vor Ort zu bewerten.