Disqualifikationen
Hallo Herr Damaske! Ich bin sicher, dass Sie bei den US Open auch das Spiel und den Faux-Pas von Novak Djokovic verfolgt haben. Im Netz wurde unter den Fans fleißig diskutiert, ob die Linienrichterin den Ball hätte kommen sehen und fangen, zumindest aber abwehren müssen. Wie hat sich Ihrer Meinung nach die Linienrichterin verhalten? Hatte sie überhaupt eine Chance, diesem vollkommen unerwartet kommenden Ball auszuweichen? Kann man ihr einen Vorwurf machen? Und: blieben den Oberschiedsrichtern überhaupt andere Optionen, als Djokovic zu disqualifizieren? Wie oft wurden Spielerinnen und Spieler schon disqualifiziert? Mir fallen in diesem Zusammenhang nur McEnroe, Nalbandian, Williams und Shapovalov ein. Haben Sie persönlich schon mal jemanden vom Turnier ausgeschlossen? Ist doch sicher spannend, in diesem Zusammenhang mal einen echten Experten zu hören!
Christoph Damaske: Vielen Dank für Deine Frage. Generell dürfen Schiedsrichter*innen auf Grund des »ITF-Code of Conducts« Schiedsrichterentscheidungen anderer Officials nicht kommentieren, daher kann ich mich nur zu den offiziellen Regeln und das normale Verhalten eines Linienrichters/einer Linienrichterin und von Oberschiedsrichtern generell äußern.
Die Aufmerksamkeit der Linienrichter*innen geht nach der Spielstandsansage der Stuhlschiedsrichter*innen bei einem ungeraden Satzspielstand rüber zur gegenüberliegenden Seite, denn man ist aufgefordert, sich — gemeinsam zum Sitzplatz beim Seitenwechsel — möglichst synchron mit den anderen drei stehenden Linienrichter*innen zu bewegen. Auf dem Video mit der Kameraeinstellung unterhalb des Schiedsrichterstuhls konnte sich jeder selbst ein Bild davon machen, ob die Linienrichterin eine Chance hatte, auszuweichen, geschweige denn, den Ball überhaupt kommen zu sehen. Damit beantworten sich dann auch die von Ihnen genannten Social-Medial-Spekulationen.
Nun zur Oberschiedsrichter-Entscheidung, die in jedem Fall bei Grand-Slams mit dem Supervisor des Platzes und mit der Stuhlschiedsrichterin abgesprochen wird:
Die USTA schreibt in Ihrer Presseerklärung zum Vorfall Folgendes: „In Übereinstimmung mit dem Grand-Slam-Regelwerk sprach der Oberschiedsrichter der US Open aufgrund eines gefährlich und rücksichtslos geschlagenen Balles mit fahrlässigem außer Acht lassen der Konsequenzen eine Disqualifikation aus.“
Auch spricht die USTA von einen unabsichtlichen Verhalten vom Spieler. Disqualifikationen werden in der Regel bei ähnlichen Vorfällen ausgesprochen, wenn Zuschauer, Linienrichter*innen oder Ballkinder zu Schaden kommen. Eine Statistik über die Anzahl der Disqualifikationen auf den verschiedenen Touren kann ich Ihnen leider nicht nennen, aber es kommt im Tennisjahr auf allen Ebenen (Futures, Challengerturniere, Tour-Events) aus meiner Beobachtung ca. zwei bis drei Mal vor, dass Spieler*innen ihr Match aus diversen Gründen für Verstöße gegen den Verhaltenskodex frühzeitig beenden müssen.
Persönlich hatte ich als Schiedsrichter bis heute einmal den Fall einer Disqualifikation bei einem meiner Matches, in welchem ein Spieler mit dreimaligem Schlägervergehen (Bruch/Wurf/Wurf) gegen die damals dreistufige Verwarnungsregel verstoßen hatte. Diese dreistufige Disqualifikation gab es übrigens damals bei John McEnroe vs. Mikael Pernfors bei den Australian Open, dort handelte es sich aber um hörbare Obszönitäten, die in Richtung der Officials gingen und Bedrohungen von Officials. Vor vielen Jahren wurde der Verhaltenskodex dahingehend verändert, dass es keine automatischen Defaults für Schlägerwerfen und Ball wegschlagen mehr gibt und die letzte Stufe der Disqualifikation immer mit dem Supervisor oder Oberschiedsrichter abgesprochen werden muss. Die Entscheidung ist dann ein erneuter Spielabzug oder die Disqualifikation, wenn es vorher schon die Verwarnung, den Punktabzug und den Spielabzug gab — je nach Schwere der Verstöße gegen den Verhaltenskodex. Bei besonders gravierenden Verstößen wie beispielsweise direkten bösen Beleidigungen oder Verletzungen kann, bzw. muss die Disqualifikation unverzüglich erfolgen, ohne vorherige Warnings.
Ich hoffe, ich konnte etwas aufklären.